Universität Leipzig
Institut für Germanistik
WS 2005/06:
Die Künstlerproblematik in der deutschen Literatur
des 20. Jahrhunderts
Dozent:
Dr. habil. Dietmar Schubert
Thema der Hausarbeit:
Die Darstellung der Künstlerproblematik in Thomas Manns
Novelle „Der Tod in Venedig“
erstellt von:
Susanne Vogt
Leipzig, Mai 2006
1
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung..................................................................................................... Seite 3
II. Soziale und politische Umstände um 1900.................................................. Seite 3
III. „Der Tod in Venedig“
III. 1. Kurze Inhaltsangabe..................................................................................... Seite 5
III. 2. Die Künstlerproblematik.............................................................................. Seite 6
III. 3. Resümee zur Novelle ................................................................................... Seite 20
IV. Vergleich literarische Vorlage – filmische Umsetzung................................ Seite 22
V. Schlußbetrachtung......................................................................................... Seite 25
Bibliographie................................................................................................. Seite 27
Bildanhang.................................................................................................... Seite 28
2
I. Einleitung
Die Stellung des Künstlers in der Gesellschaft und die Bedeutung der Kunst für dieselbe ist eine
Frage, die immer wieder gestellt und zu beantworten versucht wurde. Wie gestaltet sich die Bürger-
Künstler-Beziehung? Was unterscheidet eine Künstlerpersönlichkeit von einer bürgerlichen?
Welche Bedeutung haben Emotion, Naivität, Form und Schönheit für die Kunst? Diese
Aneinanderreihung von Fragen ließe sich beliebig fortsetzen und doch nie endgültig beantworten.
Was unter dem Begriff Kunst gefasst wurde, änderte sich im Verlauf der Geschichte ständig und
wird auch heute noch fortlaufend erweitert und diskutiert. Seit der Antike setzen sich Philosophen
mit dem Wesen der Kunst und des Künstlers auseinander. Für die jüngere Vergangenheit sind hier
unter vielen anderen Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Immanuel Kant, Friedrich Schillers
theoretische Schriften und Theodor W. Adorno zu nennen. Doch es sind auch die Künstler selbst,
die in ihren Werken ihr Dasein kritisch betrachten, analysieren und bewerten, sich ihrer
Existenzberechtigung vergewissern und ihre Aufgaben in und für die Gesellschaft ständig neu zu
bestimmen suchen.
Die vorliegende Arbeit soll die Darstellung der Problematik des Künstlertums anhand der in den
Jahren 1911/12 entstandenen Novelle „Der Tod in Venedig“ von Thomas Mann aufzeigen.
Zunächst führe ich einige soziologische, politische und kulturhistorische Entwicklungen an, die das
Lebensumfeld des Autors während der Entstehungszeit des Werkes geprägt haben, um dem Leser
einen Eindruck der gesellschaftlichen Situation um die Jahrhundertwende zu vermitteln. Im
Anschluß an eine kurze Inhaltsangabe werden anhand des Textes die für die Künstlerproblematik
wichtigen Strukturen und Motive herausgearbeitet. Den Abschluß dieser Studie bildet ein Vergleich
mit der filmischen Adaption von Lucchino Visconti, die 1971 unter dem Titel „Morte a Venezia“
erschien.
II. Soziale und politische Umstände um 1900
Das Deutschland der Jahrhundertwende war ein Kaiserreich. Nach dem gewonnenen Deutsch-
Französische Krieg 1870/71 und der Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. als
Deutscher Kaiser entwickelte es sich bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 in einen
hochindustrialisierten Staat.1 Damit einher gingen Veränderungen sowohl der allgemeinen
Lebensumstände der Bevölkerung, als auch der sozialen Stellung jedes Einzelnen. Eine um 1900
einsetzende Landflucht und Verstädterung ließ die Großstädte expandieren. Die anwachsende
Wirtschaft und eine florierende Industrie sorgte für die Herausbildung einer neuen Elite aus
1 http://de.wikipedia.org/wiki/Deutschland#Der_Weg_zum_deutschen_Nationalstaat_.281806.E2.80.931871.29,
Stand: 04.04.2006
3
Wirtschaftsfachleuten, Technikern und Ingenieuren. Bestand im 19. Jahrhundert ein klassisch-
humanistischer Bildungsanspruch, so orientierte sich die breite Öffentlichkeit nun an technischem
und wirtschaftlich relevantem Wissen.
Die Reaktionen der Künstler auf diese Umbrüche werden in der Publikation von Josef Häfele und
Hans Stammel „Thomas Mann: Der Tod in Venedig“2, auf die ich mich im Folgenden beziehe, sehr
umfassend besprochen. Der Künstler, im besonderen der Literat, wurde nicht mehr als Repräsentant
und Sprecher des gebildeten Bürgertums verstanden. Das Dasein des Wirtschaftsbürgers, der
produktiv tätig und von gesunder Lebenstüchtigkeit sei, galt als erstrebenswert. Der Konflikt, der
mit dieser Wandlung der gesellschaftlichen Wertmaßstäbe für den Künstler einhergehen musste,
findet sich unter anderem in Thomas Manns „Tristan“, in den Personen des Herrn Klöterjahn als
Wirtschaftsbürger, gesund und tatkräftig, und des Herrn Spinell, eines kränklichen und den
Lebensrealitäten nicht gewachsenen Schriftstellers, thematisiert.
Die Kunst hatte dem Staat, der die herrschenden Machtstrukturen eines Obrigkeitsstaates unter
preußischer Vormacht beibehielt, in Form von ideologischer Propaganda zu dienen, oder sie wurde
ignoriert. Durch diese Umstände, auf der einen Seite vom Staat unbeachtet und auf der anderen
Seite vom Bürgertum als Repräsentant nicht mehr gebraucht, fühlten sich die Künstler unverstanden
und isoliert, ihrer Identität beraubt. Sie zogen sich zurück in eine Welt des Kunstgenusses und
Lebensrausches und schauten mit einer gewissen Verachtung auf fortschrittsgläubige Bürger herab,
deren Welt ihnen oberflächlich und von materiellen Wertmaßstäben bestimmt erschien. Die
bürgerlichen Intellektuellen verzichteten auf eine Kritik an den bestehenden politischen und
sozialen Verhältnissen und verstanden sich nun als eine Art geistige Aristokratie. Ein Kult des
Schönen mischte sich mit Endzeitstimmung und Verfallsvisionen, das Schwache und Kranke wurde
ästhetisiert, verwickelte seelische Vorgänge geschildert und Traum und Rausch in kunstschaffende
Prozesse einbezogen. Die Stimmung von Verfall, Untergang und schwindender Vitalität paarte sich
mit wachsender Sensibilität und Differenzierung im Seelischen und Geistigen. Diese Lebens- und
Kunstauffassung, unter dem Begriff Dekadenz zusammengefasst, erlebte ihren Höhepunkt
zwischen1890 und 1912 und wurde unter anderen von Friedrich Nietzsche, Friedrich Hölderlin und
Richard Wagner (der Nietzsche als Inbegriff der kulturellen Dekadenz galt) diskutiert.3 Die
Dekadenzbewegung entwickelte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer europäischen
Literaturrichtung, als deren Vertreter Charles Baudelaire, Oskar Wilde, Anton Tschechow, Arthur
Schnitzler, Rainer Maria Rilke und Thomas Mann gelten.4
2 Häfele, Stammel: Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Frankfurt am Main 1992.
3 Evers, Meindert: Das Problem der Dekadenz. Thomas Mann & Nietzsche. In: Zur Wirkung Nietzsches. Würzburg
2001. S. 51f.
Gerth, Klaus: Das Problem des Menschen. Zu Leben und Werk Thomas Manns. Seelze 2004. S. 22.
4 Der Knaur. Universallexikon in 15 Bänden. München 1990. Bd. 3. S. 1045.
4
Unter diesen äußeren Umständen begann der am 06. Juni 1875 in Lübeck geborene und in
gutbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsene Thomas Mann sein schöpferisches Werk. Neben dem
1903 erschienen und bereits erwähnten „Tristan“ wird die Identitätskrise des Künstlertums auch in
weiteren Frühwerken verarbeitet, so in der Novelle „Der kleine Herr Friedemann“ (1898), im
Prosawerk „Die Buddenbrooks“ (1901), für das er im Jahre 1929 den Literatur-Nobelpreis erhält,
im „Tonio Kröger“ (1903) und schließlich in dem hier zu besprechenden „Tod in Venedig“ (1912).
III. „Der Tod in Venedig“
III. 1. Kurze Inhaltsangabe
Gustav von Aschenbach, der Protagonist der Novelle, ein alternder, aber renommierter
Schriftsteller, sieht sich in einer Schaffenskrise gefangen. Während eines Spazierganges
überkommt ihn Fernweh und er gibt der Versuchung, eine Reise zu unternehmen, nach. Nach einer
Zwischenstation in Dalmatien reist er nach Venedig, das sich jedoch von Krankheit und Verfall
gekennzeichnet zeigt. Er lässt sich auf dem Lido in einem mondänen Hotel nieder, in welchem
zahlreiche internationale Gäste logieren. Unter diesen Gästen befindet sich eine polnische Familie,
bestehend aus drei Mädchen unterschiedlichen Alters, einem Jungen im Alter von etwa 14 Jahren,
einer Gouvernante und der Mutter. Bereits am ersten Abend wird Gustav von Aschenbach auf die
Familie aufmerksam. Er ist von der griechischen Schönheit des Jünglings namens Tadzio tief
bewegt. Aschenbach meint, in ihm das Lächeln des Narziß und die Anmut des Dornausziehers zu
entdecken. Gesundheitlich leicht angeschlagen durch den Scirocco, einem aus der Sahara
kommenden lähmend heißen Wind, der seit seiner Ankunft weht, beschließt er die Stadt zu
verlassen. Probleme mit dem Gepäck verhindern die Flucht aus dem krankenden Venedig und vor
seiner wachsenden Leidenschaft für den schönen Tadzio. Immer häufiger und immer
offensichtlicher sucht er seine Nähe und verfolgt den Spazierengehenden durch die engen Gassen
der von der Cholera befallenen Lagunenstadt. Schließlich muß er sich eingestehen, dass seine Liebe
zu dem Knaben nicht rein ästhetischem und damit künstlerischem Interesse entspringt, sondern das
er ihn auch sinnlich begehrt. Aus Angst vor seinem eigenen Alter und um Tadzio zu gefallen,
unterzieht sich Aschenbach einer Verjüngungskur. Venedig, inzwischen stark von der Seuche
belastet, wird von den meisten Touristen verlassen und auch die polnische Familie ist im Begriff
abzureisen. Noch einmal folgen Aschenbachs Blicke Tadzio am Strand, bevor er auf seinem Stuhl
zurücksinkt und mit einem letzten Blick auf den Geliebten stirbt.
5
III. 2. Die Künstlerproblematik
Die vorangehende Inhaltsangabe ist eine sehr knappe Zusammenfassung der aus fünf Kapiteln
bestehenden Erzählung. Die Konzeption der Novelle erinnert in ihrer inneren Struktur an den
klassischen Aufbau einer Tragödie mit Exposition (erstes Kapitel – Darlegung des
Grundkonfliktes), Steigerung (zweites Kapitel – Erweitern des Verständnisses für den
Protagonisten), Peripetie (drittes Kapitel – Begegnung mit dem Knaben), fallende Handlung mit
retardierendem Moment (viertes Kapitel – Rechtfertigungsversuche durch Antikisierung) und
schließlich die Katastrophe (fünftes Kapitel – Tod des Protagonisten).5 Nun sollen die für das
Thema dieser Arbeit wichtigen Motive, Strukturen und Symbole anhand des Textes
herausgearbeitet werden. Die jeweils hinter den Textstellen in Klammern angeführten
Seitenangaben beziehen sich auf die Ausgabe des Fischer Taschenbuch Verlages, 13. Auflage,
Frankfurt am Main Februar 2001.
„Gustav Aschenbach oder von Aschenbach, wie seit seinem fünfzigsten Geburtstag amtlich sein
Name lautete,...“ (9), diese ersten Zeilen der Novelle nennen den Namen des Protagonisten und
verweisen sogleich darauf, dass dieser seine Lebensmitte bereits überschritten hat. Namensgebend
sind zum einen der am 18. Mai 1911 verstorbene Komponist Gustav Mahler. Von ihm hat die
Hauptperson nicht nur den Vornamen, sondern auch die Physiognomie entliehen.6 Thomas Mann
schreibt in einem Brief vom 18. März 1921: „In die Konzeption meiner Erzählung spielte,
Frühsommer 1911, die Nachricht vom Tode Gustav Mahlers hinein [...] ich [gab] meinem
orgiastischer Auflösung verfallenen Helden nicht nur den Vornamen des großen Musikers, sondern
verlieh ihm auch, bei der Beschreibung seines Äußeren, die Maske Mahlers.“7 Manns tiefe
Verehrung des Komponisten zeigt sich auch in einem Brief, den er nach dem Besuch der
Uraufführung von Mahlers 8. Symphonie in München an ihn schrieb. „[D]er ernsteste und
heiligste künstlerische Wille unserer Zeit“ sei in Mahler verkörpert, heißt es darin.8 Zum anderen
gilt der Landschaftsmaler Andreas Achenbach, im Jahre 1910 verstorben, als Modell für die
Konzeption Aschenbachs. Die Änderung des Nachnamens Achenbach zu Aschenbach ist bereits ein
erster Hinweis auf die Todesnähe des Protagonisten.9 Zudem birgt der bedeutungsgeladene Name
Aschenbach den Hinweis auf den Styx, den Fluss des Hades aus der griechischen Mythologie, wie
5 Häfele, Stammel: Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Frankfurt am Main 1992. S. 40.;
Hermann Kurzke sieht jedoch im zweiten Kapitel eine nachgeholte Exposition, mit der Darlegung der
Lebensumstände des Protagonisten, und im ersten Kapitel die Steigerung, da dort durch die Begegnung mit dem
Wanderer der Konflikt ausgelöst wird. Hermann Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung. München
1985. S. 121f.
6 Reed, Terence James: Thomas Mann „Der Tod in Venedig“. München 1984. S. 128.
7 GW XI, 583f.
8 Bahr, Ehrhard: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Stuttgart 2001. S. 7.
9 Häfele, Stammel: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Frankfurt am Main 1992. S.40.
Vaget, Hans: Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. München 1984. S. 170.
6
Werner Fritzen feststellt.10 Doch auch weitere Personen der Zeit gelten manchen als Modelle für die
Figur Aschenbachs. So nennt Bahr auch Friedrich Nietzsche (1844-1900), August Graf von Platen
(1796-1835) und Richard Wagner (1813-1883) als mögliche Inspirationsquellen für Thomas Mann,
denen neben ihrer Bekanntheit als Künstler auch längere Venedig-Aufenthalte, die ihr Leben und
Werk beeinflussten, gemeinsam sind.11 Augenscheinlich ging es Thomas Mann um die
Konstruktion eines Künstlertypus und nicht um die Beschäftigung mit einer konkreten Person (wie
dies Viscontis Film nahelegt, doch dazu später), aus diesem Grunde möchte ich die Diskussion um
eventuell zugrundeliegende Typen hier nicht fortführen.
Die doppelte Nennung des Namens, einmal ohne und gleich korrigiert mit dem Adelsprädikat von,
darf als erster Hinweis auf die Künstlerproblematik verstanden werden12, als ein Hinweis auf den
Rückzug in eine geistige Aristokratie (siehe meine Ausführungen unter II.), auch wenn im Verlauf
der Erzählung (29) die Verleihung des Adelstitels als durchaus weltliche, fürstliche Geste für
Aschenbachs Werk „Friedrich“ erklärt wird. Die Erwähnung der bereits überschrittenen
Lebensmitte ist ein bedeutendes Motiv in der Literatur, wie Bahr feststellt. Es imaginiert eine weit
zurückliegende Jugend, versäumtes Leben wird bedauert und ein gewisser Status, mehr oder
weniger gefestigt, ist erreicht. Die Erotik erscheint oft als eine letzte Möglichkeit, am Leben
festzuhalten.13
In den folgenden Zeilen der Novelle findet sich ein weiteres gängiges literarisches Motiv – der von
der Arbeit erschöpfte Dichter sucht Erholung im Freien.14 Aschenbach verlässt „[ü]berreizt von der
[...] Eindringlichkeit und Genauigkeit des Willens erfordernden Arbeit“ seinen Schreibtisch „in der
Hoffnung, daß Luft und Bewegung ihn wiederherstellen“ (9). Doch der Wunsch erfüllt sich nicht.
Der auktoriale Erzähler beschreibt, dass „der Schriftsteller dem Fortschwingen des produzierenden
Triebwerkes in seinem Innern [...] nicht Einhalt zu tun vermocht“ (9) hatte und so keine geistige
Regeneration finden konnte. Das Bild des Menschen als Maschine, entstanden unter den
Eindrücken der Industrialisierung und fortschreitender Maschinisierung, wendet Mann auf den
Künstler an, der den fortlaufenden Schwingungen seines Geistes, den „motus animi continuus“ (9),
nicht entkommen kann. Jenes mechanistische Bild zur Beschreibung der Fabrikation von
Gedanken- und Wortmaterial lässt Aschenbach gleich einem Prokuristen erscheinen, der die für den
Produktionsprozess zu investierenden Kräfte wie ein Soll/Haben-Konto aufstellt.15 Der dahinter
stehende Konflikt ist der Gegensatz zwischen arbeitendem Bürger, dem Wirtschaftsbürger, der
10 Fritzen, Werner: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. München 1993. S. 24.
11 Bahr, Ehrhard: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Stuttgart 2001. S. 7.
12 Reed, Terence James: Thomas Mann „Der Tod in Venedig“. München 1984. S. 128.
Häfele, Stammel: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Frankfurt am Main 1992. S.40.
13 Bahr, Ehrhard: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Stuttgart 2001. S. 8.
14 Häfele, Stammel: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Frankfurt am Main 1992. S.40.
15 Fritzen, Werner: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. München 1993. S. 25f.
7
kontinuierlich und fortlaufend materielle Leistungen erbringt, und dem Künstler, der, abhängig von
seinen inneren und äußeren Befindlichkeiten, geistig tätig ist und dessen Geist keinen Stillstand
kennt.
Die Begegnung mit einem ihm seltsam anmutenden Wanderer (Hermes psychopompos =
Seelenführer)16 am Münchner Nordfriedhof löst „eine seltsame Ausweitung seines Innern“ aus und
„ein jugendlich durstiges Verlangen in die Ferne, ein Gefühl, so lebhaft, so neu oder doch so längst
entwöhnt und verlernt“ (13) überkommt ihn. Bilder einer Urweltwildnis, in der „die Lichter eines
kauernden Tigers funkeln“ (14) und mit wucherndem, chaotischem Pflanzenwuchs, erscheinen vor
seinem inneren Auge. Der Tiger steht leitmotivisch für eine verborgene Seite von Aschenbachs
Existenz und deutet auf die folgende Entwicklung voraus.17 Doch sogleich versucht Aschenbach
sich diesem aus den Sinnen entspringenden und als leidenschaftlicher Anfall von Reiselust
diagnostizierten Gefühl zu entziehen, indem er den Drang „sehr bald durch Vernunft und durch von
jung auf geübte Selbstzucht []mäßigt und richtig []stellt.“ (15) Wieder versucht er, seinen
Empfindungen durch Strenge gegen sich selbst nicht nachzugeben. „[S]eine Künstlerfurcht, nicht
fertig zu werden – die Besorgnis, die Uhr möchte abgelaufen sein, bevor er das Seine getan und
völlig sich selbst gegeben“ (15) habe, mahnen ihn zur Vernunft. Aschenbach leidet jedoch unter
dem „sich täglich erneuernden Kampf zwischen seinem zähen und stolzen Willen und dieser
wachsenden Müdigkeit, von der niemand etwas wissen“ (16) solle. Er befindet sich in einer
Schaffenskrise und wir erfahren, dass er seine Arbeit bereits zum zweiten Mal wegen einer nicht zu
durchbrechenden Hemmung an der selben Stelle verlassen musste, „die weder geduldiger Pflege
noch einem raschen Handstreich sich fügen zu wollen schien.“ (16) Aschenbach lähmten „die
Skrupel der Unlust, die sich als eine durch nichts mehr zu befriedigende Ungenügsamkeit
darstellte.“ (17) Die Ungenügsamkeit, die er verspürt, galt jedoch „schon dem Jüngling als Wesen
und innerste Natur des Talentes [...], und um ihretwillen hatte er das Gefühl gezügelt und erkältet,
weil er wußte, daß es geneigt ist, sich mit einem fröhlichen Ungefähr und mit einer halben
Vollkommenheit zu begnügen.“ (17)18 Sein Schaffen als Schriftsteller ist ihm die „Alltagsstätte
16 Gockel, Heinz: Aschenbachs Tod in Venedig. S. 29. In: Rudolf Wolff (Hrsg.): Thomas Mann. Erzählungen und
Novellen. Bonn 1984.
Häfele, Stammel: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Frankfurt am Main 1992. S.42f. Hier wird umfassend auf die
Bedeutung des Wanderers (und auf seine Entsprechungen im Schi
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